Warum DocMorris in Deutschland scheitern musste

Stellen Sie sich vor, Sie haben Schmerzen und gehen damit zum Arzt. Nach eingehender Untersuchung verschreibt er Ihnen ein Schmerzmittel.

Das Rezept erhalten Sie nicht in Papierform, sondern es wird auf Ihre Gesundheitskarte übertragen.

Damit gehen Sie zur Automatenapotheke. Sie schieben Ihre Gesundheitskarte in den Automaten und autorisieren den Zugriff mit Ihrer PIN.

Der Automat liest aber nicht nur Ihr Rezept, sondern hat auch Zugriff auf die Liste der Medikamente, die Sie momentan regelmäßig einnehmen.

Diese Daten werden analysiert. Das Ergebnis: Es gibt eine Warnung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte über starke Wechselwirkungen zwischen dem verschriebene Schmerzmittel und Ihrem Asthmamedikament. Von der gleichzeitigen Einnahme der beiden Präparate wird abgeraten.

Sie und Ihr Arzt werden darüber informiert. Der Automat schlägt ein adäquates Ersatzprodukt vor.

Fiktion?

Nein! Alles mit heute verfügbarer Technologie abbildbar.

Und leider sehr weit von der Realität entfernt.

 

Einen Schritt in diese Richtung unternahm im Mai 2017 die Versandapotheke DocMorris.

Die Geschichte

In der baden-württembergischen Stadt Hüffenhardt schloss 2015 die einzige Apotheke des Ortes. Die Stadt suchte monatelang nach einem Nachfolger, leider erfolglos.

Dann kam DocMorris mit der Idee des „Digitalen Beratungsservice mit Abholfunktion für Arzneimittel“.

Also eines Arzneimittellagers mit Abgabeautomat und qualifizierter Videoberatung. Der Abgabeautomat hätte knapp 8.000 Medikamente immer vorrätig gehabt. Eine Anzahl wie in vielen herkömmlichen Apotheken.

Auch der Abgabeautomat ist ein übliches Gerät in einer deutschen Apotheke.

Für Sie als Kunden hätte sich das wie folgt dargestellt:

  • Sie haben ein Rezept und gehen zur Abgabestelle
  • Sie geben vor Ort Ihr Rezept ins Terminal und es wird von einem Mitarbeiter des niederländischen Unternehmens DocMorris geprüft
  • Ist das Medikament vor Ort verfügbar, erhalten Sie es sofort, wenn nicht, wird es bestellt
  • Fragen können Sie per Videokonferenz stellen
  • Sie bekommen Ihr Medikament aus dem Automaten

Eine wunderbare Idee, oder? Das Prozedere ist uns allen im Grunde bekannt. Es gibt einen feinen Unterschied: Der Apotheker ist nicht vor Ort im Laden, sondern per Videokonferenz zugeschaltet.

Klingt auf den ersten Blick wie ein sinnvolles Konzept für eine Gemeinde mit 2.000 Einwohnern (Stand: 2014)?

Vielleicht sogar wie ein Modell für viele kleine Gemeinden in Deutschland?

Eine Nutzung digitaler Möglichkeiten zum Wohle der Gemeinschaft. Oder?

So geht Digitalisierung, oder?

Ein Leitgedanke der Digitalisierung ist: Der Kunde steht im Mittelpunkt.

Stellen Sie den Kunden in den Mittelpunkt Ihres Handelns, kann gar nicht mehr so viel schiefgehen. Wenn es dann noch einen entsprechenden Bedarf seitens des Kunden gibt, ist alles gut.

Dabei muss sich vordergründig gar nicht alles digital oder im Internet abspielen.

Genau dem scheint DocMorris mit seinem Abholautomaten gefolgt zu sein. On- und Offline – wunderbar miteinander verbunden.

Die potenziellen Kunden waren begeistert. Der Gemeinderat hatte es ausdrücklich befürwortet. Eigentlich gab es nur Gewinner.

Leider ist DocMorris damit vorerst (Mai 2017) gescheitert.

Die Abgabestelle musste auf Weisung des Regierungspräsidiums nach nur zwei Tagen geschlossen werden.

Warum?

Weil die strengen gesetzlichen Anforderungen des deutschen Rechtes nicht erfüllt waren.

Die dpa schrieb dazu: „Die Automatenabgabe verwische in unzulässiger Weise die Grenze zwischen dem Versandhandel und der Abgabe von Arzneimitteln in einer Präsenzapotheke, hieß es. Letztere unterliege – sowohl was Räumlichkeiten als auch was Ausstattung und Fachpersonal angehe – hohen gesetzlichen Anforderungen, die durch das Abgabeterminal umgangen würden. Bei der Prüfung von Rezepten für verschreibungspflichtige Arzneimittel am Terminal beispielsweise werde gegen Vorschriften der Apothekenbetriebsordnung verstoßen.“

Es geht unter anderem um das Arzneimittelgesetz, das Gesetz über das Apothekenwesen und die Verordnung über den Betrieb von Apotheken.

Dort ist haarklein alles rund um das Apothekenwesen geregelt.

Wissen Sie, wie alt – oder besser gesagt aktuell – diese Regelungen sind?

  • Die Verordnung über den Betrieb von Apotheken stammt aus dem Jahr 1987. 1995 gab es eine Neufassung und letzte Änderungen hab es 2016.
  • Das Apothekengesetz wurde 1960 erlassen und 1980 neugefasst. Eine letzte Veränderung fand im Jahr 2016 statt.
  • Das Arzneimittelgesetz gibt es seit 1976, es wurde 2005 überarbeitet. Änderungen im Detail gibt es regelmäßig an diesem Gesetz.

In keiner der beiden die Apotheken direkt betreffenden Regelungen finden sich die Wörter „Internet“oder „online“. Immerhin hat es der Versand von Medikamenten in die Regelungen geschafft.

Im Arzneimittelgesetz finde ich 20-mal den Begriff Internet – immer als Hinweis auf das europäische Portal zur Arzneimittelsicherheit.

Stand der Technik vs. Stand des Rechts

Und auf Grundlage dieser gesetzlichen Regelung entscheiden die Behörden über innovative Geschäftsmodelle!

Nichts anderes ist die Medikamentenabgabestelle von DocMorris: ein innovatives und bestimmt lukratives Geschäftsmodell.

Und lukrativ ist es meiner Meinung nach für alle Beteiligten:

  • Die Bürger haben einen kurzen Weg, um ihre Medikamente zu bekommen
  • Die Gemeinde bleibt attraktiv für neue Einwohner
  • DocMorris schafft einen neuen, skalierbaren Absatzkanal für Medikamente

Schauen Sie sich bitte die Idee von DocMorris etwas genauer an: Sie ist ein wunderbares Beispiel für die konsequente Weiterentwicklung des Kerngeschäftes mit digitalen Mitteln.

Vom Kerngeschäft zum digitalen Geschäftsmodell

Das Kerngeschäft von DocMorris ist der Versand von Medikamenten. Die Bestellung kann telefonisch, per Post oder online erfolgen.

Damit ergibt sich für DocMorris eine gewisse Begrenzung der Zielgruppe. Kunden sind wahrscheinlich vor allem internetaffine Menschen. Des Weiteren ist inzwischen der Markt der Internetapotheken stark umkämpft.

Die Kernkompetenz von DocMorris ist die Logistik von Medikamenten. Aufbauend auf dieser wurde das neue Konzept entwickelt. Die Medikamente werden nicht direkt nach Hause geliefert, sondern in einer Art Zwischenlager vorrätig gehalten.

Der Kunde holt sich seine Medikamente vor Ort ab. Damit erweitert sich der Kundenkreis für DocMorris. Internetaffinität ist keine Voraussetzung mehr.

Des Weiteren bekommen Sie als Kunde vor Ort auch mehr Service als online. Sie haben die Möglichkeit, direkt mit einem Apotheker zu sprechen. Zwar per Videokonferenz, dafür jedoch in Echtzeit.

Für den Anbieter ergeben sich weitere Vorteile:

  1. Als gesetzlich Versicherter zahlen Sie ausschließlich die Zuzahlung. Die Preise sind zwischen den Anbietern und den Krankenkassen verhandelt.
    Damit ist die Motivation für mich als Verbraucher relativ gering, nicht in die Apotheke vor Ort zu gehen. Mein Vorteil bei DocMorris wäre ein Bonus von 2,50 € pro Rezept.
  2. Wird ein Medikament verschrieben, dann wird es häufig dringend benötigt und die Bestellung im Versandhandel dauert einfach zu lange. Die meisten Verbraucher gehen daher lieber vor Ort in die Apotheke.
    Mit der „Automatenapotheke“ bekommt der Versandhändler Zugriff auf genau diesen Markt. Damit muss er sich nicht ausschließlich auf den Preiskampf der Versandapotheken fokussieren und erzielt somit höhere Gewinne.

Aus meiner Sicht ein Geschäftsmodell, bei dem alle Gewinner sind.

Alle?

Nicht alle.

Scheitern an alten Strukturen und Bewahrern

Das Handelsblatt schrieb dazu:

„Die Landesapothekerkammer sieht sich in ihrer Rechtsauffassung gestärkt. ‚Das war für uns ganz klar rechtswidrig‘, sagte Karsten Diers, Geschäftsführer der Landesapothekerkammer Baden-Württemberg.

Die Apotheker hatten unter anderem bemängelt, dass Automaten keine Wochenend- und Nachtdienste unterhalten würden.“

Liest sich das für Sie auch wie das Haar in der Suppe?

Die Gemeinde hat heute keine Apotheke. Ist es da nicht besser, wenn wenigstens montags bis freitags zu den üblichen Geschäftszeiten eine Apotheke geöffnet hat?

Wie sehen Sie das?

Meine Interpretation:

Der Handel mit Medikamenten ist ein sehr gutes Geschäft. Der Markt ist durch die Regelungen sehr gut abgeschottet. Konkurrenz gibt es zwischen den Apotheken nicht wirklich. Dafür sorgen die Regelungen und die guten Sitten.

Dies gilt es natürlich, mit allen Mitteln zu verteidigen. Es kann doch nicht sein, dass ein Modell, welches viele Jahrzehnte funktioniert hat, plötzlich verändert werden soll.

Diese Verteidigungsschlacht tobt bereits seit 2003. Damals gab es das erste Gerichtsverfahren um den Versand von Medikamenten. DocMorris hat damit also schon Erfahrung.

Lassen Sie uns das mal aus Sicht des Verbrauchers betrachten. Gibt es einen Grund, Angst zu haben? Ist unsere Sicherheit gefährdet?

Ja! Aber nicht durch Abgabeautomaten, sondern durch gefälschte Arzneimittel. Dazu gab es im Mai den Themenabend „Gefährliche Medikamente“ in der ARD.

Die Zukunft ist jetzt!

Vergegenwärtigen Sie sich bitte nochmal das Szenario vom Anfang dieses Beitrags:

Basierend auf der aktuellen Verordnung des Arztes und Ihrer digital gespeicherten Krankenakte und Ihren Rezepten, ermittelt die Maschine, dass die Kombination aus dem aktuell verschriebenen Medikament und Ihrem Asthmapräparat zu Problemen führt.

Eine Leistung, die heute kein Mensch, kein Apotheker oder Arzt erbringen kann.

Es gibt so viele Medikamente, Wirkstoffe und Hilfsstoffe, dass das nur mit Hilfe von Big Data bewältigt werden kann.

Einen Menschen braucht es dazu nicht. Nicht mal einen, der per Video zugeschaltet wird. Wenn ich heutzutage in der Apotheke eine Frage zu einem Arzneimittel habe, dann schaut die Apothekerin auch heute schon im Computer nach und liest vor, was da steht.

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Das ist kein Vorwurf an die Personengruppen der Apotheker und Mediziner. Die heutigen Datenmengen sind so unglaublich groß, dass es gar nicht anders geht.

Zumindest, solange der Mensch ohne technische Hilfe involviert sein muss. Gerade deswegen brauchen wir die maschinelle Unterstützung.

Das beschriebene Szenario funktioniert natürlich auch mit einem Menschen anstatt einem Automaten.

Der Mensch verrichtet dabei allerdings nur Hilfsarbeiten: Chipkarte einlesen, vorlesen, was aktuell verordnet wurde, und Ausgabe der Medikamente.

Ich höre schon: „Ja, aber einem Menschen kann man Fragen stellen.“

Ja. Einer Maschine auch!

Die Möglichkeiten der Spracherkennung sind ausgereift. Die Maschine wird die Frage des Kunden verstehen.

Für die Antwort kann sie auf das komplette Wissen zugreifen. Mit Hilfe künstlicher Intelligenz analysiert die Maschine die Ergebnisse und liefert eine sinnvolle, nutzbringende Antwort.

Diese wird mit Hilfe von Sprachsynthese ausgeben und klingt fast ganz natürlich. Nur mit dem Dialekt hapert es etwas.

Das funktioniert in der Apotheke, online und am Telefon. Jeden Tag, zu jeder Uhrzeit. Aus meiner Sicht gibt es nur Vorteile für den Verbraucher.

Zukunft verspätet sich – leider

Zwei Gründe sehe ich, warum dieser erste Schritt gescheitert ist:

  1. Die gesetzlichen Regelungen passen nicht in eine digitalisierte Welt.
  2. Die Vertreter des bestehenden Geschäftsmodells wollen sich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen.

Beide Gründe hängen letztlich miteinander zusammen, denn die Vertreter der Apotheken nehmen natürlich Einfluss auf die Gesetzgebung. Ich bin überzeugt: Würden sie eine Entwicklung wollen, würden sich die Gesetze viel schneller den Möglichkeiten anpassen.

Meiner Meinung nach sehen wir hier einen klassischen Abwehrkampf. Die Verteidigung des Ist-Zustandes.

Eine typische Reaktion auf innovative und lukrative Geschäftsmodelle.

Was können wir lernen?

Was können Sie und ich daraus für unsere Digitalisierungsanstrengungen lernen?

Nehmen wir zuerst das Positive:

  1. Das eigene Kerngeschäft zu variieren und auf die eigene Kernkompetenz zu setzen, führt zu lukrativen digitalen Geschäftsmodellen.
  2. Die Konzentration auf die Probleme und Bedürfnisse der Zielgruppe führt zu guten Lösungen. Eine Erweiterung der Zielgruppe bringt einen auf ganz neue Ideen.

Eine gute Idee, eine perfekte User Experience und ein Bedarf im Markt sind jedoch kein Garant für den Erfolg.

Mit Hilfe einer Stakeholder- und Umfeldanalyse dürften Sie mögliche Feinde und Stolpersteine identifizieren. Diese zu bewerten ist ebenso wichtig.

Das gehört für mich auch in eine ganz frühe Phase. Die Risiken zu identifizieren und eine Strategie dafür zu entwickeln, ist ebenso entscheidend, wie ein vernünftiges MVP (= Minimum Viable Product) zu erstellen.

Natürlich dürfen Sie sich, wie DocMorris, bewusst dafür entscheiden, einen Konfrontationskurs einzuschlagen. Haben Sie allerdings nicht die finanziellen Möglichkeiten, einen langen Rechtsstreit durchzustehen, dann sollten Sie nicht unbedingt in den Kampf ziehen.

Das Beispiel von DocMorris zeigt, wie, basierend auf dem Kerngeschäft, eine digitale Entwicklung aussehen kann. Es zeigt auch, welch großes Betätigungsfeld der Bereich „Medizin“ ist. Auch meine Geschichte vom Anfang ist nur eine vage Vorstellung von dem, was möglich ist.

Starten Sie jetzt!

Die Geschichte von DocMorris ist fantastisch! Sie sehen was für Potential in einem bestehenden Geschäftsmodell schlummert. Sie sehen auch, welche Probleme das nicht passende Umfeld erzeugen kann. Ich habe viel aus dieser Geschichte gelernt.

Ich werde zukünftig viel mehr Augenmerk auf mögliche Stolpersteine legen. Gerade, wenn ich Sie oder andere Unternehmen auf dem Weg zum digitalen Geschäft begleite. Die Reise beginn meist mit dem Workshop „Top Down zum digitalen Unternehmen„. Dort schauen wir gemeinsam, wo das Potential Ihres Unternehmens liegt.

PS: Die erste Videoberatung mit Arzeneimittelabgabe beschäftigt und die Gerichte. Nachdem am 26. April die Abgabestelle für zumindest rezeptfreie Medikamente wieder öffnete, ist diese nun auch seit dem 14.06.2017 geschlossen. Der Landesapothekerverband Baden-Württemberg e. V. hatte erfolgreich geklagt. Weiterhin ist ein Verfahren beim Verwaltungsgericht in Karlsruhe anhägig.

Peter Bergmann
 

​Peter Bergmann ist Informatiker, Stratege und Fachmann. Ausgestattet mit der Vision, Business Support Services ohne starre IT-Organisationen für Unternehmen greifbar zu machen, stärkt er vor allem die taktische Handlungsebene in der IT. Er setzt sich aktiv für den Rollenwechsel vom CIO zum CSO (Chief Service Officer) ein. Peter Bergmann ist Geschäftsführer der elleta München GmbH Seine Kunden erleben ihn als Impulsgeber für den Auf- bzw. Umbau verlässlicher und rentabler unternehmensinterner IT-Organisationen sowie für extern operierende Cloud-Provider. Im Mittelpunkt der Themen steht die Orientierung an systemischen Arbeitsformen und Prozessen. Hierbei kommt es auf einen Paradigmenwechsel im Verständnis insgesamt und auf begeisterte Manager und Mitarbeiter an.

Click Here to Leave a Comment Below 1 comments