Deutschland, deine Digitalisierungsbremsen

Derzeit vergeht kein Tag ohne Nachrichten von der alles verändernden Digitalisierungswelle. Nach „Cloud Computing“, selbst DevOps hält da nicht mehr mit, treiben die Begriffe „Digitalisierung“ und „Transformation“ jeden, ja selbst die eigens auf den Plan gerufenen Blogger, in den Wahnsinn. Was soll man überhaupt noch dazu schreiben? Auf welche Schlagzeilen reagiert die Zielgruppe? Und ja – wer ist überhaupt meine Zielgruppe?

Aber auch in Berlin, München und in anderen Regierungsstädten sind die Botschaften angekommen. Unser (Noch-)Verkehrsminister zeichnet für die digitale Infrastruktur in Deutschland verantwortlich und plakatiert im aktuell sommerträgen Wahlkampf alles mit 4.0.

„Logistik 4.0“ – „Wer nicht digitalisiert, verliert“, überschrieb er kürzlich seine Rede zur Eröffnung einer Transportmesse und versprach bis 2025 5G für alle. „Ich bin der erste Verkehrsminister seit Jahrzehnten, der mehr Geld zur Verfügung hat als Projekte.“

Status Quo

Wasser in den (deutschen) Wein goss im Juni die Schweizer IMD Business School, die im neuen World Competitive Ranking (vgl. auch www.imd.org) erstmals die Digitalisierung als Faktor für die Wettbewerbsfähigkeit von Staaten mit einbezogen hat. Und dabei landete Deutschland nur auf Platz 17 und offenbarte erhebliche existenzielle Defizite.

Darunter fällt auch die nicht vorhandene flächendeckende Breitbandversorgung. Zwar hat der Minister für Verkehr und digitale Infrastruktur, Dobrindt, gerade erst den Fahrplan für den Breitbandausbau vorgestellt, doch sind sich Experten einig, dass die darin benannten Ziele wie eine Internetgeschwindigkeit von mindestens 50 Megabit pro Sekunde (Mbit/s) bis 2018 deutlich zu niedrig sind. Selbst die EU hat sich die Marke von 100 Mbit/s bis 2020 gesetzt.

Mit wenig mutigen Konzepten, so die IMD Business School, und scheinbar fehlendem Bewusstsein für die Brisanz der Digitalisierung bremsen Politiker die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands aus.

Stimmt das tatsächlich? Ist die stärkste europäische Wirtschaft wirklich nicht in der Lage, existenziell notwendige Rahmenbedingungen für eine leistungsfähige, digital geprägte Infrastruktur zu schaffen?

Begeben wir uns auf die Suche und prüfen wir nach, ob die Szenarien der Angst tatsächlich stimmen oder ob Deutschland für die digitale Zukunft gut (genug) aufgestellt ist.

 

Beispiel 1: Elektronische Gesundheitskarte (eCard)

Ein erster Feldversuch lief 1993/1994 mit drei Ärzten und ca. 4.000 Chipkarten für deren Patienten. Auf Basis der gemachten Erfahrungen wurde 1996 der Sozialminister ersucht, ein Chipkartensystem für die digitale medizinische Patientenbetreuung einzurichten. Das dafür erforderliche Gesetz trat 1999 parallel zur Umsetzung der Signaturrichtlinie in Kraft.

In der ersten Ausbaustufe ersetzte die eCard den Versicherungsnachweis auf Papier und damit den Krankenschein, den Krankenkassenscheck, den Arzthilfeschein, den Patientenschein, den Behandlungsschein und auch noch den Zahnschein. Die Testphase lief im Dezember 2004 in einigen Regionen recht erfolgreich; 2005 wurden alle sozialversicherten Menschen, unabhängig von Staatsbürgerschaft und Erwerbstätigkeit, mit der elektronischen Karte ausgestattet. Seit Mai 2009 erlaubt die eCard die Meldung und Abmeldung zum Krankenstand. Dieser Service wurde zuvor seit Mai 2008 in einem Pilotprojekt mit 35 Ärzten und über 42.000 Online-Meldungen in einem Bundesland getestet.

Die eCard gehört zum E-Government-Projekt. Sie verwendet elektronische Signaturen und ist längst keine reine Krankenversicherungskarte mehr, sondern eine allgemein nutzbare Chipkarte. Mit ihr ist auch außerhalb der Sozialversicherung die elektronische Authentifizierung der Kartenbesitzer möglich. Die eCard bietet einen sicheren Zugriff auf persönliche Daten, die bspw. in Rechenzentren der Krankenversicherungen oder im Bundesrechenzentrum gespeichert sind. Für die eCard wird ein jährlicher Beitrag von 10 € erhoben. Dieser ersetzt die frühere Krankenscheingebühr.

Derzeit werden je Arbeitstag ca. 350.000 bis 580.000 Patientenkontakte mit der eCard abgewickelt. Am bisher stärksten Tag konnten 623.552 Patientenkontakte mit der eCard bedient werden. Über 11.000 Vertragspartner (hauptsächlich Ärzte) sind an das eCard-System angeschlossen. Bis Ende des Jahres 2006 wurden 9.425.551 eCards ausgestellt. Jährlich müssen für Neugeborene, nach Namenswechseln, Verlust usw. mehrere hunderttausend Karten neu ausgestellt werden (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/E-card_(Chipkarte)).

Dem gegenüber steht der Wegfall von jährlich ca. 40 Millionen früher noch teilweise manuell ausgestellten Kranken- und Auslandskrankenscheinen, der Entfall der Logistik dieser Papierbelege und die Verhinderung von Missbräuchen, bspw. durch einfaches Nachdrucken dieser Belege.

Der Chip der eCard erfüllt alle Anforderungen, die im Behördenverkehr und im Wirtschaftsleben an ein Bürgerkartensystem gestellt werden. Mit der rechtsverbindlichen Unterschriftsmöglichkeit durch die elektronische Signatur wird die eindeutige Identifikation des Menschen, auf den die Karte ausgestellt ist, garantiert. Infolgedessen wurden und werden schrittweise Funktionen für eine digitale Bürgerkarte freigeschaltet. So sind bereits heute u.a. Steuererklärungen und ähnliche Bürgerdienste ganz bequem von zu Hause und unabhängig von Öffnungszeiten der Ämter und Behörden möglich.

Die Vereinfachungen durch die Koppelung dieser Karte an das eCard-System führten in den letzten Jahren zu Kostenverringerungen in Höhe mehrerer Millionen Euro, sodass beschlossen wurde, die eCard zur vollumfassenden Bürgerkarte aufzurüsten.

Jetzt reiben wir uns einmal die Augen – haben wir gerade einen Traum gehabt? Ja, denn es war ein Alp(en)traum. So sieht es bei unseren Nachbarn in Österreich aus.

Und in Deutschland?

Die elektronische Gesundheitskarte (eGK) in Deutschland: ein Projekt als eine einzige große Dauerpanne

Dem 2009 gestarteten Vorhaben wurde und werden immer wieder Steine in den Weg gelegt. Ursprünglich sollte die elektronische Gesundheitskarte bereits 2006 eingeführt werden, doch die Selbstverwaltung war zunächst tief zerstritten über das Projekt. Die am Projekt Beteiligten engagierten sich besonders, wenn es um Eigeninteressen und Behinderungen ging und immer noch geht. Aber nach vielen Jahren Arbeit zeichnet sich endlich Licht am Himmel ab …

Ab Mitte 2016 soll(te) nach dem im Dezember 2015 beschlossenen E-Health-Gesetz mit dem Stammdatenmanagement die erste Online-Funktion an den Start gehen – zehn Jahre nach der ursprünglich geplanten Einführung. Arztpraxen hätten die auf der Karte hinterlegten Angaben wie Name und Anschrift des Versicherten über das Internet mit den Daten der Krankenkassen abgleichen können. Die Betreibergesellschaft Gematik hat dafür über viele Jahre eine Telematik-Infrastruktur entwickelt und getestet (s. folgende Grafik).

Eine virtuelle Institutionskarte soll auf einem Telematik-Server erzeugt werden und den mobilen Zugriff auf die Kartendaten freigeben. (Bild: gematik)

Eine virtuelle Institutionskarte soll auf einem Telematik-Server erzeugt werden und den mobilen Zugriff auf die Kartendaten freigeben. (Bild: gematik)

Inzwischen haben zwar fast alle Versicherten in Deutschland einen neuen Ausweis, doch der unterscheidet sich von seinem Vorgänger bislang nur durch ein Passbild. Vor wenigen Wochen, noch „rechtzeitig“ vor dem ersten Produktivgang, verschaffte sich allerdings die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) mit einem juristischen Gutachten Gehör und ließ feststellen, dass die eGK gegen geltendes Recht verstößt und damit nutzlos ist. Allerdings verpflichtet das E-Health-Gesetz unter Androhung von Strafen zur Teilnahme am elektronischen Verfahren, sodass auch dieser Schuss gegen die eGK verpuffte.

Eigentlich soll das E-Health-Gesetz den Ausbau der Telematik-Infrastruktur beschleunigen und die Karte damit ein entscheidendes Stück voranbringen. Trotzdem gab es immer wieder Verzögerungen, sodass die im E-Health-Gesetz verankerten Funktionen der eGK erst verspätet an den Start gehen können. Wenn überhaupt, denn die für einen Rollout der ersten Online-Funktion erforderlichen technischen Komponenten stehen nicht rechtzeitig genug und nicht in ausreichender Menge zur Verfügung (vgl. www.pharmazeutische-zeitung.de, http://www.spiegel.de/thema/elektronische_gesundheitskarte/). Die flächendeckende Online-Anbindung startet nach mehrmaliger Verschiebung nun Mitte 2017.

Vielleicht …

Spätestens mit oder besser „dank“ WannaCry (Mai 2017) wird das Projekt nun vom Deutschen Ärztetag blockiert. Dieser forderte in einer Stellungnahme eine „moderne und dezentrale Punkt-zu-Punkt-Kommunikation im Gesundheitswesen unter höchsten Datenschutzkriterien“. Für den Deutschen Ärztetag sei das Speichern von Patientendaten in einer zentralen Cloud schlicht zu riskant und werde abgelehnt (vgl. www.heise.de, Newsletter vom 24.5.2017).

Im Klartext: Ein wesentlicher Teil der Akteure, ja der Profiteure einer eGK lehnt den digitalen Fortschritt ab und fordert den geplanten Online-Rollout der eGK so lange auszusetzen, bis nachgewiesen ist, dass die Abläufe in Arztpraxen und Klinken nicht gestört werden und der Datenschutz gewährleistet ist. Die erste und bislang einzige geplante und über viele Jahre vorbereitete Online-Funktion „Versichertenstammdatenmanagement“ findet nach dem Willen des Deutschen Ärztetages nicht statt.

Über die Motivation der Handelnden darf man spekulieren. Wie das Beispiel aus Österreich zeigt, ist eine elektronische Gesundheitskarte bei vergleichbarem Bewusstsein von Datenschutz und Informationssicherheit, bei teilnehmenden Ärzten, Kliniken, Versicherungen und bei den Versicherten selbst, vermittelbar. Technisch anspruchsvoll – ja, aber realisier- und betreibbar ist die Infrastruktur dahinter auch. Warum also schafft ein Land wie Deutschland es nicht, eine verlässliche Telematik-Infrastruktur aufzubauen und zu betreiben?

Und nun steht die Gesundheitskarte wohl vor dem aus: http://www.zeit.de/digital/datenschutz/2017-08/krankenkassen-elektronische-gesundheitskarte-vor-dem-aus

Beispiel 2: Telemedizin – ein dauerhafter Feldversuch

Wir kennen die Berichte über angebliche Fortschritte in der digitalen Patientenbetreuung, die gerade auf dem Land durch den Wegfall unnötiger, teilweise belastender und kostenintensiver Transporte eine Entlastung für Ärzte, Patienten, Krankenpfleger und Kassen bringen würde.

Die Vision: In der Arztpraxis der Zukunft gibt es nur noch ein kleines Wartezimmer. Denn zur Behandlung kommen nur Patienten mit schweren Leiden. Menschen mit Husten oder Schnupfen bleiben hingegen zu Hause. Um sie kümmert sich der Arzt nur noch am Computer – per Videokonferenz, Messprogrammen und elektronischem Rezept. Der Arzt kontrolliert die Gesundheitsdaten seiner Patienten mithilfe eines Tablets oder Computers. Die Digitalisierung ermöglicht die medizinische Versorgung von Patienten aus der Ferne.

Die Technik ist da und kann prinzipiell genutzt werden. Auch wenn die Bandbreite in der Fläche noch immer nicht ausreicht, so steht trotz allem die Gesundheitsversorgung zweifelsfrei in den kommenden Jahren vor einem gewaltigen Umbruch: Schnelles Internet, neue Messgeräte und Videotechnik erlauben es, immer mehr medizinische Dienste anzubieten, ohne dass sich Arzt und Patient noch treffen müssen. Mit dem vermehrten Einsatz der Telemedizin ist künftig die Beratung, Rehabilitation und die Kontrolle aus der Ferne möglich.

Gäbe es da nicht die Präsenzpflicht, ein Vergütungsmodell und weitere Ärgernisse …

Selbst die Bundesregierung verspricht sich vom Ausbau der Telemedizin eine deutlich bessere Patientenbetreuung und legte 2015 Innovationsfonds zu deren Förderung auf. Derzeit stehen rund 100 Projekte auf der Förderliste. Aber …

Dem Durchbruch der Telemedizin – vor allem im ambulanten Bereich – steht derzeit noch das Vergütungssystem im Weg. Die bestehende Vergütung sei zudem „auf das duale Arzt-Patienten-Verhältnis ausgerichtet, nicht auf netzwerkbasierte Behandlungsformen“, so Franz Joseph Bartmann, Vorsitzender des Telematikausschusses der Bundesärztekammer (BÄK). „Die Behandlung am Monitor setzt erhebliche Investitionen voraus. Mit den Regelleistungen der Kassen sind diese nicht abgedeckt.“

Zudem verbietet die bestehende Berufsordnung (Erläuterungen) eine entfernte Erstdiagnose. Sie untersagt bislang, Patienten ausschließlich aus der Ferne zu behandeln. Ärzte müssen den Patienten wenigstens zu Beginn einmal persönlich getroffen haben. Eine Videosprechstunde, um eine Erstdiagnose zu stellen, ist heute noch ausgeschlossen, nur Kontroll- und Nachsorgeuntersuchungen sind möglich.

Blicken wir mal wieder in den Süden, dieses Mal in die Schweiz.

Vorbild für geplante Versuche in Deutschland ist der dortige Telemedizin-Anbieter Medgate (s. http://www.medgate.ch). Dort kümmern sich 100 Ärzte rund um die Uhr um die Anliegen der Patienten: Sie beraten, diagnostizieren, stellen Rezepte aus und überweisen diese – falls nötig – an andere Ärzte. Täglich rund 4.900 Beratungen führt das Unternehmen durch. Die Kassen freut es: Sie müssen weniger bezahlen, weil Patienten besser durchs System geführt werden und es weniger Arztkontakte gibt.

In der deutschen Ärzteschaft jedoch ist das Modell Medgate umstritten. Kritiker sehen die Gefahr, dass bei der Ferndiagnose Dinge übersehen werden und der Mediziner sich kein objektives Bild machen kann. Doch BÄK-Vertreter Bartmann lässt dieses Argument nur bedingt gelten: „Ein vorgegebener Abfrage-Algorithmus lässt bei Medgate gar nicht zu, dass notwendige Fragen nicht gestellt werden.“

Doch inzwischen erlaubt die Landesärztekammer Baden-Württemberg seit dem Herbst 2016 ein bundesweit erstes Modellprojekt für die Behandlung von Patienten auch ohne direkten Kontakt mit einem Arzt. Das verspricht künftig kürzere Wartezeiten, bessere Datenqualität für die behandelnden Ärzte, Entlastungen für Patienten und vor allem sinkende Kosten.

Eine digitale Perspektive: Der fehlende Landarzt wird durch Telemedizin ausgeglichen oder medizinische Fachangestellte übernehmen den Hausbesuch. Diese können Untersuchungen selbst durchführen und jederzeit in Kontakt zum Arzt treten, der seine Praxistätigkeit extra für Hausbesuche nicht mehr unterbrechen muss.

Das funktioniert aber nur, wenn die Beteiligten die digitale Entwicklung der Telemedizin mitgestalten, anstatt sie zu blockieren. Aufhalten lässt sich, trotz der vielen Vorbehalte, Gesetze und Regelungen sowie aktiver Lobbyarbeit, der Trend ohnehin nicht. Die Abkehr vom abhängigen Arzt-Patienten-Verhältnis bei gleichzeitiger verstärkter Nutzung von Gesundheits-Apps und verbesserter Telemedizin wird auch die Patientenbetreuung in Deutschland nachhaltig verändern.

Beispiel 3: Störerhaftung – ein weltweit einmaliges Rechtskonstrukt

Deutschland geht bzw. ging bis zum letzten Tag der aktuellen Legislaturperiode des Deutschen Bundestages einen Digitalisierungssonderweg und verhinderte eine flächendeckende Ausbreitung von öffentlichen und frei nutzbaren Internetzugängen. Nun sind wir ja unter anderem auch Reiseweltmeister und erleben es im Ausland oft ganz anders. Selbst im Mowani Mountain Camp, in der tiefsten namibischen Provinz, hunderte Kilometer fernab einer Ortschaft, können die Gäste in den Zelten einen komfortablen Internetzugang nutzen.

Anders in Deutschland: Hier sieht die Rechtslage wie folgt aus: „Als Störerhaftung wird die Verantwortlichkeit eines Störers als Handlungsstörer, Zustandsstörer oder Mitstörer bezeichnet, welche allgemeine Vorschriften im Sachenrecht (§ 1004 BGB) sowie des Verwaltungsrecht regeln. Nach der zivilrechtlichen Störerhaftung kann derjenige, der – ohne Täter oder Teilnehmer zu sein – in irgendeiner Weise willentlich und adäquat kausal zur Verletzung eines geschützten Gutes beiträgt, als Störer auf Unterlassung der Rechtsverletzung in Anspruch genommen werden.“

Vereinfacht formuliert: Jeder Betreiber eines Hotspots kann zur Verantwortung gezogen werden, wenn über dessen WLAN illegal urheberrechtliches Material getauscht, kopiert oder zum Verkauf/zur Nutzung angeboten wurde.

Eine ganze Abmahnindustrie hatte sich mit merkwürdigen Geschäftsmodellen entwickelt, um aus der Rechtsunsicherheit Kapital zu schlagen. Mehr oder weniger berechtigte Forderungen in Form von Abmahnungen, bspw. wegen mutmaßlicher Urheberrechtsverletzungen, mussten WLAN-Betreiber aufwendig abwehren oder fallweise akzeptieren. Den Lobbyisten sei Dank, denn die Störerhaftung war bis Ende Juni 2017 Bestandteil des Telemediengesetzes und somit dafür verantwortlich, dass es in einer der stärksten Volkswirtschaften der Welt im öffentlichen Raum vergleichsweise nur wenige frei zugängliche Hotspots gab. Trotz bis zum Schluss erhobener Vorbehalte gegen die geplante 3. Änderung des Telemediengesetzes (TMG) passierte die Abschaffung der Störerhaftung den Bundestag.

Deutschland einig WLAN-Land?

Gelobt und vielfach positiv kommentiert wurde die Beseitigung der bisher bestehenden Rechtsunsicherheit. Dürfen wir also nun davon ausgehen, dass es endlich auch bei uns normal und üblich wird, an öffentlichen Stellen und Plätzen, in Cafés und Restaurants, in Schwimmbädern – eigentlich überall – einen frei zugänglichen Internetzugang anzutreffen?

Die Antwort mit „Vielleicht ja“ ist ernüchternd, denn ein neuer Begriff macht die Runde: „Netzsperre“. Und zwar ohne Richtervorbehalt. Was war passiert?

Bei der Vorbereitung der 3. Änderung des Telemediengesetzes forderte das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie Interessenvertreter auf, den vorliegenden Referentenentwurf zu kommentieren. Lobbyisten des Urheberschutzes plädierten für die Geltendmachung von Netzsperren und fanden Gehör. Demnach haben Urheberrechtsinhaber weiterhin die Möglichkeit, gegen mögliche Rechtsverletzungen vorzugehen.

In einer erst wenige Tage vor der Gesetzesänderung abgehaltenen Bundestagsanhörung warnten Sachverständige davor, dass die Entscheidung über Netzsperren ausschließlich von Gerichten getroffen werden dürfe. Insider sprachen bei der Anhörung von einer Farce, da die grundsätzliche Regelung nach einem Spitzengespräch der Koalitionsvertreter bereits feststand, Gleiches gilt für die Kritik, dass das Sperrverfahren zu ungenau geregelt sei und bei WLAN-Anbietern deshalb weiterhin Unsicherheit erzeuge.

Netzsperre statt Störerhaftung. Na super – auch die dritte Änderung des TMG schafft keine absolute Betreiber- und damit Rechtssicherheit. Auch wenn die Betreiber von WLANs die Kosten von Sperranordnungen nicht zu tragen haben, so verbleibt die Gefahr von Abmahnungen weiter bestehen. Und damit die Frage, wie frei der Zugang zum Internet in Deutschland künftig sein wird.

Ist Deutschland wirklich so innovations-, ja digitalfeindlich?

Eindeutig lässt sich die Frage nicht beantworten.

Die Berater von BearingPoint sprechen in einem RedPaper Ende 2016 von der „Illusion von der digitalen Transformation“. Sie monierten, nach meiner Auffassung richtigerweise, in ihrem Digitalisierungsmonitor, dass Deutschlands Unternehmen auf Technologien setzen und sich primär auf die Transformation vom „Analogen“ ins „Digitale“ konzentrieren. Echte Transformationsprozesse, die vor allem ganze Unternehmen, Organisationen und Führungskultur sowie Prozesse betreffen, haben nach Erhebungen von BearingPoint hierzulande bisher kaum begonnen.

Zwar ist die Notwendigkeit eines Wandels in den Köpfen der deutschen Wirtschaft längst angekommen, jedoch regiert allzu oft die Handbremse. Lieber werden Scheindiskussionen um einen Chief Digital (wahlweise auch Data) Officer geführt, der erforderliche Kulturwandel nicht konsequent eingefordert und vor allem mehr Risiken als Chancen gesehen. Spätestens wenn erkannt wird, dass Transformationsbemühungen umfassend angesetzt werden müssen und das gesamte Unternehmen nebst Prozessen, Strukturen und kompletten Geschäftsmodellen verändern, regiert die Skepsis.

Noch einmal die Kollegen von BearingPoint (aus dem Digitalisierungsmonitor), denn …

  • … sie beschrieben den allgemein beobachteten Ist-Zustand wie folgt: digitale Technologie statt Transformation. Die Technologie ist neu, aber sonst ändert sich wenig.
  • … sie identifizierten Treiber und Bremser: Der Veränderungsdruck kommt von außen, doch die Organisation bremst allerorten.
  • … sie beobachteten eher konservative Handlungsmuster: Die Bereitschaft zu grundlegenden Neuerungen ist gering; richten soll es ein digitaler Heilsbringer.

Allem Pessimismus zum Trotz empfiehlt BearingPoint fünf Ansätze für erfolgreiche Transformationen:

  1. Stellen Sie nur und ausschließlich den Kunden in den Mittelpunkt Ihres Tuns und Handelns.
  2. Handeln Sie wie ein Start-up. Sie müssen auf nichts Rücksicht nehmen, können keinen Imageverlust erleiden und eigentlich nur gewinnen.
  3. Betreten Sie Neuland und investieren Sie wie ein Risikoanleger. Nur wer etwas wagt, kann später mal gewinnen.
  4. Gehen Sie Veränderungen konsequent, jedoch unumkehrbar an. Es wird eine Weile brauchen, bis der „Gezeitenwechsel“ greift und die digitale Transformation Erfolge zeitigt.
  5. Passen Sie die IT-Infrastruktur „digital“ an und konzentrieren Sie sich auf neue, wertbringende digitale Ansätze. Ordnen Sie IT-Ressourcen nur noch innovativen IT-Lösungen zu.

Was ist also los im Digitalisierungswunderland?

Während die Erkenntnisse gereift sind, die Veränderungen sichtbar werden und die unternehmensinternen Probleme offen benannt werden, scheint die Angst vor dem Wandel Entscheidungen zu beeinflussen. Ist es die eigene Courage, der fehlende Mut vor Veränderungen, auch mal die Angst vorm Scheitern oder der Mangel an bisherigen Praxisvorbildern?

Wieder BearingPoint: Es scheint vielmehr ein Warten auf den digitalen Erlöser zu sein. Dringend gesucht: der Messias (gerne von außerhalb des Unternehmens), der mit Vision und Tatkraft der Organisation einen Ruck gibt. Auch die Rückmeldungen von etwa 280 befragten Unternehmen zeigen, dass diese mit der digitalen Transformation ein Hybridmodell anstreben – eine Koexistenz von agilen und traditionellen Organisationsmodellen. „Wasch mich, mach mich aber nicht nass“ – diese geflügelte Redewendung fällt mir dazu sofort wieder ein.

 

Quelle: BearingPoint, Digitalisierungsmonitor

Das Problem der Digitalisierungsbremsen fördert die Nachfrage nach Erfolgsfaktoren, die von Entscheidern in den Unternehmen identifiziert werden, mehr als deutlich zutage: Gerade einmal vier Prozent sehen eine Notwendigkeit für eine veränderte Organisationsstruktur. Hier wird die unausgesprochene Grundeinstellung „Digitalisierung ja, aber nicht konsequent“ deutlich: Einzelne sollen das Unternehmen in die Zukunft führen, der Rest folgt und möglichst wenig ändert sich sonst.

Quelle: BearingPoint

 

Gibt es in Deutschland tatsächlich so wenig Digitalisierung?

Es gibt innovative Köpfe mit vielen quergedachten, guten Ideen.

In einem Artikel in der FAZ hielt Henning Kagermann ein Plädoyer für die digitale Arbeitswelt. Er sieht Deutschland für Herausforderungen gut aufgestellt und meint: „Wir sollten keine Angst haben, uns mit der Digitalisierung abzuschaffen. Wir brauchen den Mut, uns neu zu erfinden.“

In der derzeitigen Phase des radikalen technologischen Umbruchs sprießen sprichwörtlich Negativszenarios aus dem Boden: Die Digitalisierung vernichtet Arbeitsplätze. Fünf Millionen Jobs binnen fünf Jahren gehen verloren, prophezeit das Weltwirtschaftsforum (WEF). Mal angenommen, es gehen in den nächsten fünf Jahren tatsächlich fünf Millionen Arbeitsplätze in den 15 größten Industrienationen verloren, würde die Arbeitslosenquote in den betroffenen Ländern um weniger als 0,3 Prozentpunkte zunehmen. Im Vergleich dazu stieg die Arbeitslosenquote während der Finanz- und Euro-Krise (2008 bis 2013) EU-weit um 3,9 Prozentpunkte, in den Krisenländern sogar um 15 bis 20 Prozentpunkte.

Kagermann resümiert absolut richtig: Ein radikaler Wandel auf dem Arbeitsmarkt sieht anders aus. Die Herausforderung Digitalisierung ist lösbar. Automatisierung und Digitalisierung hatten und haben daran einen wichtigen Anteil.

Denn mit dem Schritt zur Industrie 4.0 können wir die Wettbewerbsfähigkeit weiter stärken, Arbeitsplätze im Hochlohnland Deutschland halten. Erste Firmen denken bereits darüber nach, ausgelagerte Arbeitsplätze nach Deutschland zurückzuholen. Auch wenn immer höher qualifizierte Arbeitsplätze wegdigitalisiert würden, so entstehen neue Arbeitsplätze, die oft interessanter sind, besser bezahlt und weniger gefährlich als zuvor.

Stellenabbau kann durch Wachstumsimpulse überkompensiert werden. Kagermann zitiert die Beratungsfirma BCG; diese rechnet allein im Maschinenbau in den nächsten zehn Jahren mit rund 95.000 zusätzlichen Jobs. Die Arbeit verschwindet also nicht, sie wird neu definiert. Der Bedarf an Experten aus den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik (MINT) steigt.

Wir brauchen in Deutschland mehr spezialisierte Fachkräfte. Menschen, die gut ausgebildet und hoch motiviert sind, sich den Anforderungen einer technischen Berufsausbildung und im Berufsalltag zu stellen. Denn jeder Job wird in Zukunft digitale Komponenten haben: Werkzeugmeister vernetzen sich mit Kollegen in anderen Firmen; Taxifahrer müssen nicht mehr jede Straße auswendig kennen, sondern verlassen sich auf Smartphone und GPS. Pflegekräfte nutzen Apps, um ihre Arbeitszeiten zu planen und Krankenakten digital zu pflegen usw.

Egal welcher Generation heutige und künftige Beschäftigte angehören – sie werden von der neuen Technik profitieren, anspruchsvolle Jobs ausüben können und sicher sein, über beständige Beschäftigungsverhältnisse in der digitalisierten Gesellschaft zu verfügen. Im Gegenzug dafür muss der Umgang mit Apps und Technik im Allgemeinen sowie vernetztes bzw. interdisziplinäres „State of the Art“-Denken eingefordert werden. Flexibilität, Medienkompetenz, verantwortliches Denken und Selbstorganisation gehören ohnehin dazu.

Neue Geschäftsmodelle braucht das Land

Beim Stichwort „Internet of Things“ (IoT) listet Google rund 80 Millionen Einträge. Die Wikipedia-Definition beschreibt, dass der einzelne Computer in der digitalen Welt zunehmend von „intelligenten Gegenständen“ ergänzt wird. Das IoT soll den Menschen bei seinen Tätigkeiten unmerklich unterstützen, ohne abzulenken oder überhaupt aufzufallen. So werden bspw. miniaturisierte Computer, sogenannte Wearables, mit unterschiedlichen Sensoren direkt in Kleidungsstücke eingearbeitet.

Die Entwicklung des „Internet of Things“ der letzten Jahre verdeutlicht die folgende Grafik von Wikipedia. Hier ergibt sich Spielraum für so manch neue Ideen.

A technology roadmap of the Internet of Things (Quelle:
Apendix F of Disruptive Technologies Global Trends 2025 page 1 Figure 15 (Background: The Internet of Things))

Also nutzen wir die Technik, dachte sich der Chef der Techniker Krankenkasse, Dr. Jens Baas, und schlug vor Jahresfrist vor, auf ebendiese Fitnessdaten der Versicherten zugreifen zu wollen. Warum nicht, so sein Gedankengang, eine gesunde Lebensweise zu belohnen?

Immerhin: Wearables sind beliebt und zieren immer mehr Handgelenke. Internet of Things, einmal weitergedacht, ergäbe doch einen Sinn, um Schrittzähler- oder Lauf- bzw. Pulsmesserdaten zu nutzen und fitten und tendenziell gesünderen Versicherten einen Bonus zu gewähren.

Die Medien (Der Tagesspiegel: „Der vermessene Mensch“, 9.2.2016) und selbsternannte Wächter in Sachen Datensicherheit und Persönlichkeitsschutz sammelten gleich massenhaft Argumente, um den Versicherungen prophylaktisch zu unterstellen, ältere und/oder kranke Menschen zu benachteiligen. Denn: In Deutschland geht das naturgemäß gar nicht und Baas durfte einem gewaltigen Shitstorm ausweichen.

Während Bewahrer u. a. den Datenschutz und Persönlichkeitsrechte zur Abwehr derartiger Ideen ins Feld führen und die Abkehr vom Solidarprinzip befürchten, entgegnete der Patientenbeauftragte der Bundesregierung (Laumann, CDU), Deutschland sei „im Bereich der Digitalisierung von Gesundheitsdaten immer noch Entwicklungsland“.

„Niemand sollte gezwungen sein, seine Fitness überwachen zu lassen“, forderte Heiko Maas (SPD) deshalb beim Safer Internet Day, der jährlich vom Ministerium für Verbraucherschutz und dem Branchenverband, der sich jetzt „Digitalverband“ nennt, Bitkom veranstaltet wird. Dort waren kürzlich sogenannte Wearables, und Gesundheits-Apps das Schwerpunktthema. Anwesende Politiker bezogen direkt Stellung und wetterten gegen Pläne der Techniker Krankenkasse und von Lebensversicherern wie der Generali: „Wer seine Daten nicht messen lassen oder diese Daten nicht der Krankenkasse zur Verfügung stellen wolle, dürfe keine Nachteile haben.“

Damit besteht für innovative, ja kostensenkende Modelle, bspw. für Versicherungen, inklusive durch Anreize verbesserter Gesundheit und steigenden Lebensgefühls, kaum noch Spielraum. Alles bleibt wie bisher und die technologischen Möglichkeiten des Internet of Things verstreichen. Stattdessen führen Millionen von Versicherten Bonushefte, weisen Vorsorgemaßnahmen darin aus und die Versicherungen müssen über den Umfang von Bonusprogrammen nach althergebrachter Art nachdenken. Ganz ohne Technik.

Ja, wir haben sie – die Kreativen, die, die anstoßen und gestalten wollen

In einem Interview bei „netzwirtschaft.net“ schwärmt Gabriele Horcher von Möller Horcher, die Agentur steht für langjährige Erfahrung und umfassendes Know-how im Bereich Public Relations, Content Marketing und Lead Management, von der Faszination digitale Geschäftsentwicklung. Sie sieht sich einerseits als Treiber, aber andererseits auch als Getriebene der Digitalisierung.

Das 2000 als klassische PR-Agentur gegründete Start-up begann schon früh mit personalisierten E-Mails und baute eines der ersten Online-Pressezentren auf. Inzwischen wurde das Portfolio auf Social Media, SEO, Lead Relations, Websites, Employer-Branding etc. ausgeweitet. Möller Horcher war beim digitalen Lead Management vorne mit dabei und nennt es derweil Lead Relations. Hier geht es nicht nur um eine Kooperation von Marketing und Vertrieb, sondern um die Verknüpfung aller Kommunikationskanäle miteinander. Ohne Medienbrüche, durchgängig.

Auf die Frage nach den Hauptherausforderungen der nächsten Zeit antwortete Horcher: „Insgesamt befürchte ich, dass Deutschland auf der Digitalisierungsbremse steht und damit auf längere Sicht den Wohlstand der Nation gefährdet.“

Eine Beobachtung, die ich und meine Kollegen vom idt teilen, bringt es auf den Punkt: Die Trägheit der deutschen Unternehmen, sich dem digitalen Wandel zu öffnen, verlangsamt das Wachstum des Marktes. Die IT-Unternehmen weichen deshalb zum Teil auf andere Länder aus. Die Vorteile der neuen Lösungen werden von dortigen Unternehmen dann dazu genutzt, die Konkurrenz aus Deutschland abzuhängen. Denn langfristig, wenn die Wirtschaft in Deutschland den Trend der digitalen Transformation verschläft, wird es richtig ungemütlich.

Wie sieht das idt die aktuellen Digitalisierungsbemühungen in Deutschland?

Die Kultur des Abwartens bzw. kontrollierten Handelns führt unmerklich ins Hintertreffen. Latent vorhandene Angst eines Scheiterns verhindert allerorten, einen tatsächlichen, wenn erforderlich auch radikalen Wandel endlich zu beginnen. Daher mutieren Digitalisierungsideen zu einem Experimentierfeld mit beliebigem Ausgang.

In seinem Vorwort zum Buch „Die Digitalisierung der Welt“ (erschienen Februar 2017 bei Springer Gabler) wies Dr. Peter Samulat vom idt auf folgendes gravierendes Missverständnis hin: „The digitization of the world – there is a small but important difference though: digitalization is quite different to digitization. Both words are often misused and mixed up for describing the ideas and details behind them – and are very often used in the wrong context.“

Gartner definiert in seinem Glossar beide Begriffe wie folgt:

  • Digitization is the process of changing from analog to digital form.
  • Digitalization is the use of digital technologies to change a business model and provide new revenue and value-producing opportunities; it is the process of moving to a digital business.

Dahinter versteckt sich nicht nur ein bloßes Wortspiel, sondern eine andere Sicht auf die Welt der Digitalisierung. Da heute niemand mehr ohne Schlagworte wie Digitalisierung, Big Data, Robotics, Industrie 4.0 etc. auskommt, ist kaum noch eine klare Deutungshoheit bzw. korrekte Anwendung dieser teilweise als Buzzwords bezeichneten Begriffe zu erkennen.

„Digitalisierung“ ist inzwischen mehrdeutig belegt und ein im falschen Kontext viel zu oft verwendeter Begriff. Mein geschätzter Schweizer Kollege Dr. Steigele antwortete kürzlich auf die Frage, was er von der Inflation des „D“-Worts halte, kurz und knapp: „Ich selbst halte weder etwas vom inflationären Gebrauch des Wortes Digitalisierung noch etwas von der Neigung, seine eigene Ahnungslosigkeit hinter diesem Wort zu verbergen.“

Schaut man in einschlägige Portale, Blogs oder auf Webseiten oder die Agenda von Fachkongressen, so liefern sich in der Tat „digital“ (in Variationen) und „agil“ ein Wettrennen um den aktuell meistgebrauchten Begriff. Von der „digitalen Wirtschaft“ über eine „digitale Revolution“, die wiederum „digitale Strategien“ erfordert oder „digitale Kompetenzen“ von Beteiligten einfordert, was dann zu einer „digitalen Identität“ wird. Das „Digitalisierungszeitalter“ wird in „Digitalisierungskongressen“ erörtert und es wird vor einem „digitalen Debakel“ in Deutschland gewarnt, wenn wir nicht lernen, die „digitalen Werkzeuge“ anzuwenden, um endlich zur „digitalen Gesellschaft“ zu werden.

Noch einmal mein Kollege Dr. Samulat vom idt: „Digitization is more or less the transformation from analog ‚things‘ to digital ones, including increasing efficiency of paper processes along the way. We are interacting with all types of digitally accessible data and getting more done in our daily work. Digitalization is focused on transforming products and services based on technology, based on digitization.“

Nach dem Wirtschaftswissenschaftler Hansjürgen Paul ist bspw. die technische Aufbereitung von Information von einer analogen Existenz in ein digitales Abbild auf unterschiedlichen Speichermedien eines Computers nur ein Aspekt der „digitalen Welt“. „‚Digital‘ ist der Gegensatz zu ‚analog‘. ‚Analog‘ bedeutet ‚stetig‘, ‚kontinuierlich‘; ‚digital‘ steht für ‚gestuft‘ und ‚diskret‘. Digitaluhren“, so Paul, „stellen den Zeitverlauf gestuft dar, Analoguhren kontinuierlich. Vinyl-Schallplatten geben Audiosignale kontinuierlich, stetig wieder, CDs gestufte Abbildungen des analogen Signals.“ Mit meinen Worten: Die Transformation analoger Dinge in digitalisierte Zustände hat wenig mit Digitalisierung zu tun.

„Understanding this important difference in talking about aspects of digital transformation got me thinking about what to do in daily business to improve the digital capabilities of organizations, to start the journey of transformation that is focused on customers, products and services. There is no digitalization and no digital transformation without digitization“, so Dr. Samulat in der idt-Publikation.

Ich beobachte, dass in Deutschland vor allem auf Produkt-, Service- oder Transaktionsebene Veränderungen von „analog“ zu „digital“ stattfinden. Statt am Ende ein Buch in ausgedruckter Form vorliegen zu haben, findet sich am Ende aller Digitalisierungsbemühungen der Inhalt als E-Book wieder. Der gesamte Prozess der Herstellung spielt aus Digitalisierungsbetrachtungen heraus eine untergeordnete Rolle.

Wir propagieren und verlangen ein radikaleres Umdenken und Handeln, denn die Digitalisierung ganzer Prozesse, Branchen oder Volkswirtschaften benötigt die Bereitschaft, vermeintlich schmerzhafte Veränderungsprozesse nicht auszusparen. Jedes Unternehmen, jede Organisation, jede Verwaltung muss sich auf dem Weg ins Digitalisierungszeitalter hinterfragen, die eigenen Potentiale und Chancen ebenso erkennen wie mögliche Risiken thematisieren. Bremsen gleich welcher Art bringen uns um die Zukunft, gefährden den Wohlstand und führen zu sozialen Verwerfungen.

Kommen wir zum Schluss noch einmal auf die vollmundigen Statements unseres Ministers für digitale Infrastruktur und seine Einschätzung zum Breitbandausbau in der Fläche zurück: Ein an mir durchgeführter eher unfreiwilliger Selbstversuch am Abend des Finals des Confed Cups ergab die Erkenntnis, dass (als Mitfahrer im Fond, versteht sich) an einen Genuss der Übertragung via eigenen Hotspot und Notebook schlicht nicht zu denken war. Der Bereich rund um die Autobahn A9 im Bereich südliches Sachsen, Thüringen und Nordbayern steht anscheinend bisher nicht im Fokus des Breitbandausbaus. So blieb die gute alte ARD-Radioreportage und am Ende ein Sieg unserer Mannschaft.

Hinweis: Für die Recherche dieses Beitrags wurden (u. a.) folgende Quellen herangezogen: Aerztezeitung.de, BearingPoint: Der Digitalisierungsmonitor, FAZ.net, Gartner.com, Heise.de, Netzpolitik.org, Netzwirtschaft.net, Pharmazeutische-zeitung.de, Presseportal.de, Primary-hospital-care.ch, Spiegel.de, Transformation-it.de, Samulat, Peter: Die Digitalisierung der Welt, Springer Gabler, Februar 2017, Wikipedia.de (Wikipedia.com)

Peter Bergmann
 

​Peter Bergmann ist Informatiker, Stratege und Fachmann. Ausgestattet mit der Vision, Business Support Services ohne starre IT-Organisationen für Unternehmen greifbar zu machen, stärkt er vor allem die taktische Handlungsebene in der IT. Er setzt sich aktiv für den Rollenwechsel vom CIO zum CSO (Chief Service Officer) ein. Peter Bergmann ist Geschäftsführer der elleta München GmbH Seine Kunden erleben ihn als Impulsgeber für den Auf- bzw. Umbau verlässlicher und rentabler unternehmensinterner IT-Organisationen sowie für extern operierende Cloud-Provider. Im Mittelpunkt der Themen steht die Orientierung an systemischen Arbeitsformen und Prozessen. Hierbei kommt es auf einen Paradigmenwechsel im Verständnis insgesamt und auf begeisterte Manager und Mitarbeiter an.

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